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Kasuistik in der Betrieblichen Sozialarbeit - Ein Arbeitsfeld in der Privatwirtschaft

 

Katja Müggler, Edgar Baumgartner

 

 

 

1 Einleitung

Kasuistik ist in der Sozialen Arbeit mit mehreren unterschiedlichen Bedeutungen und Formen verknüpft (vgl. Kunz 2015). Sie spielt sowohl in der Ausbildung von Sozialarbeitenden wie auch in der Praxis der Sozialen Arbeit eine Rolle. In diesem Beitrag nehmen wir ausschliesslich Bezug auf Letzteres, also auf die Kasuistik in der Praxis, und diskutieren diesen Zugang für das Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialen Arbeit. 

Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die Feststellung, dass Kasuistik eine Auseinandersetzung mit Einzelfällen impliziert. Die Betrachtung von Einzelfällen kann dabei mit unterschiedlichen Zielsetzungen verknüpft sein. Eine normativ-illustrative Form der Kasuistik erfolgt mit dem Anspruch, Vorgehensweisen vorzugeben und zu lehren, «wie man’s macht». Eine deskriptiv orientierte Form versucht hingegen zu erschliessen, wie sich ein Fall entwickelt hat, während eine heuristische Kasuistik als weitere Ausrichtung die Erweiterung von Erklärungs- und Handlungsalternativen bedeutet (vgl. Müller/Niemeyer/Peter 1986: 5). Bei einer wissenschaftlich ausgerichteten Kasuistik wiederum steht das «Verstehen» eines Falles – und nicht dessen Lösung – im Vordergrund (vgl. Kunz 2015: 178). Dieser Zugang bleibt im Folgenden ausgeklammert, da wir die Kasuistik im Kontext der sozialarbeiterischen Praxis beleuchten. Die Arbeit mit «Fällen» ist in der Sozialen Arbeit konstitutiv für die professionelle Praxis. Das spezialisierte Wissen der Professionellen erlaubt, Krisen und Probleme der Klientel zu verstehen und zu bearbeiten. Dabei ist der Rückgriff auf unterschiedliche Quellen und Formen von Wissen sowie deren Verknüpfung mit dem Handeln für den Modus der professionellen Fallbearbeitung kennzeichnend. Dies kann – wie die normativ-illustrative Form der Kasuistik betont – auch ein professionelles Urteilen beinhalten.

Die professionellen Vorgehensweisen des Verstehens, Urteilens und Handelns sind jedoch nicht nur durch das individuell verfügbare und aktualisierbare Wissen geprägt, vielmehr konstituiert sich das, was der Fall ist, unter weiteren Voraussetzungen: Die Interaktion zwischen Klientel und Professionellen sowie organisationale Logiken oder rechtliche Vorgaben spielen mit hinein (vgl. Beiträge in Busse et al 2016). Auch Spezifika eines Arbeitsfeldes können Rahmenbedingungen für die Fallbearbeitung und den Modus, wie Fälle konstituiert werden, setzen.

Eine kasuistische Praxis weist jedoch über Verfahren der Fallbearbeitung im Einzelfall hinaus. Sie muss abgrenzbar zu bewährten Verfahren der Fallbearbeitung sein. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung und Sicherung von Professionalität verbinden wir im Folgenden Kasuistik in der Praxis mit dem Anspruch, das Lernen am Fall und den systematischen Aufbau professionellen Wissens zu ermöglichen und einheitliche Vorgehensweisen in der Fallbearbeitung zu unterstützen. Die Voraussetzungen hierfür, also für die Erzeugung, den Transfer und die Integration von Wissen über Fälle und deren Bearbeitung, sind durch das Arbeitsfeld und konkrete organisationelle Kontexte geprägt. Darauf möchte der vorliegende Beitrag eingehen und Formen, Gefässe und Strukturen thematisieren, die als «kasuistische Räume» gelten können. Dies erfolgt am Beispiel von Proitera, einer schweizweiten Anbieterin von Betrieblicher Sozialer Arbeit.

In einem ersten Schritt wird auf Grundzüge und Merkmale des Arbeitsfeldes eingegangen, welche Rahmenbedingungen für die konkrete Praxis in Betrieblichen Sozialberatungen setzen. In einem weiteren, zweiten Schritt geht es um das Beispiel Proitera und damit um Strukturen und Gefässe in der Praxis, die kasuistische Räume darstellen und Hinweise auf eine kasuistische Praxis erlauben. Der Beitrag diskutiert im Rahmen eines abschliessenden Fazits Formen und Relevanz der Kasuistik für die Betriebliche Soziale Arbeit.

 

2 Das Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialen Arbeit
 

Im Folgenden möchten wir das Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialen Arbeit kurz beschreiben.

2.1 Historische und systemische Verortung des Arbeitsfeldes

Das Aufkommen der Sozialen Arbeit in Unternehmen erfolgte in der Schweiz um 1920. Der Grundstein für die heutige Betriebliche Soziale Arbeit wurde in Zeiten starker sozialer Spannungen zwischen Arbeiternehmenden und Arbeitgebenden sowie schlechter Arbeits- und Lebensbedingungen gelegt. So betrug die Arbeitslosigkeit damals 10%, die Realeinkommen hatten 30% ihres Wertes verloren (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 7). Grosse Ängste und Verunsicherung breiteten sich aus. Im Jahr 1922 setzte die Maschinenfabrik Gebrüder Bühler als erstes Unternehmen in der Schweiz eine Betriebsfürsorgerin ein. Die zugrundeliegende Motivlage ist als paternalistisch zu charakterisieren, da sie sich gleichermassen an der sozialen Verantwortung des Patrons gegenüber den Angestellten und ihren Familien wie auch am Bemühen, die Mitarbeitenden an den Betrieb zu binden, orientierte (vgl. Reinicke 1998: 202). Die Betriebsfürsorgerinnen leisteten vor allem praktische Hilfe: Sie lieferten günstige Stoffe, organisierten Koch- und Nähkurse oder Ferienaufenthalte für Kinder in den Bergen.

In Deutschland reichen erste Hinweise auf eine der heutigen Betrieblichen Sozialen Arbeit vergleichbare Tätigkeit weiter zurück. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden in verschiedenen Großbetrieben des Deutschen Reiches (Bayer, Krupp, Siemens, etc.) sogenannte Fabrikpflegerinnen eingestellt. Traditionell waren es Frauen, oft Krankenschwestern. Als durch die Kriegseinsätze der Männer immer mehr Frauen zur Mitarbeit in der Kriegsindustrie verpflichtet wurden, befürchteten die Verantwortlichen Ausfälle in der Produktion durch die Doppelbelastung der Frauen, als Arbeiterinnen und Mütter (vgl. Klinger 2001: 16). Die verantwortlichen Ministerien veranlassten, Fabrikpflegerinnen in den Munitionsfabriken, und später in allen militärischen Institutionen, sofern dort Frauen arbeiteten, einzustellen. Bis Ende 1917 waren es 500, Ende 1918 bereits 745 Personen in Deutschland (vgl. Bremmer 2010: 12).

Das Aufkommen der Sozialen Arbeit in Unternehmen ist also in Zusammenhang mit dem Wandel der Lebensbedingungen und der Formen der Existenzsicherung zu sehen. Die Lebensbedingungen breiter Bevölkerungsschichten und der Fabrikarbeiterschaft waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlecht. Die Fabrikfürsorgerinnen kümmerten sich daher in den Anfängen um materielle Unterstützung, den Zugang zu wichtigen Gütern sowie gesundheitliche Fragen.

Historisch betrachtet erfolgt der Beizug der Sozialen Arbeit zu einem Zeitpunkt, als eine durch die fortschreitende Industrialisierung geprägte Wirtschaft Folgeprobleme in Form von sozialen Problemen bzw. Integrationsproblemen bei Arbeitenden erzeugte, die für die Wirtschaft selbst problematisch wurden. Der Rückgriff auf Soziale Arbeit ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar und funktional. Strukturell ist die Soziale Arbeit optimal platziert, da sie an Orten wirken kann, an denen Integrationsprobleme entstehen.

Diese Form der Positionierung teilt die Betriebliche Soziale Arbeit mit weiteren Arbeitsfeldern. Soziale Arbeit «dockt» in weiteren gesellschaftlichen Teilsystemen an, wie dem Bildungssystem (Schulsozialarbeit), Gesundheitssystem (klinische Soziale Arbeit) oder dem Rechtssystem (Bewährungshilfe), und bearbeitet die dort auftretenden spezifischen Integrations- und Lebensführungsprobleme von Individuen. 

Diese Struktur des Andockens bildet eine Rahmenbedingung für die Professionalität in diesen Arbeitsfeldern. Denn die Einrichtung der Sozialen Arbeit erfolgt historisch betrachtet nachrangig; das heisst, dass Soziale Arbeit dabei nach Massgabe und gemäss Bedarf des Systems, das Soziale Arbeit integriert, eingebunden wird. Diese Nachrangigkeit der Ausdifferenzierung von Sozialer Arbeit begünstigt eine hierarchisch untergeordnete Position und damit eine Gefährdung der Autonomie und Professionalität der Sozialen Arbeit (Baumgartner/Sommerfeld 2016: 37).

Für die Betriebliche Soziale Arbeit lassen sich konkrete Konsequenzen aus dieser Struktur des «Andockens»im Wirtschaftssystem aufzeigen(vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016). Denn Soziale Arbeit agiert hier als «Gast in einem fremden Haus» (für die Schulsozialarbeit: Baier 2007), in dem die ökonomische Logik grundsätzlich dominierend ist. Da die Betriebliche Soziale Arbeit (in der Schweiz) eine freiwillige Leistung von Unternehmen ist, muss sie folglich in einer ökonomischen Logik als sinnvoll codiert werden (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 112). Breite Anerkennung findet hierbei die Legitimationsfigur, dass der Nutzen in der Bearbeitung von die Arbeitsleistung beeinträchtigenden psychosozialen Problemen besteht. Jenseits dieses Kernbereichs, der immer noch an die historischen Ursprünge der Betrieblichen Sozialen Arbeit erinnert, sind weitere Zuständigkeitsbereiche – etwa soziale Probleme im Betrieb – aus Sicht von Unternehmen bereits strittiger bzw. von anderen Berufsgruppen weniger anerkannt. In der Folge droht damit tendenziell eine funktionale Engführung der Sozialen Arbeit.

Die Auseinandersetzung um die Zuständigkeit der Sozialen Arbeit und eine Einengung der Funktionalität auf die Bedarfe des die Soziale Arbeit integrierenden Systems wird vor dem Hintergrund geführt, dass sich in Unternehmen andere Berufsgruppen ebenfalls mit sozialen Belangen auseinandersetzen. Auch Vorgesetzte oder Personalfachleute berücksichtigen soziale Rahmenbedingungen und Folgen ihres Tuns sowie soziale Fragen. 

«Für die Systembildung der Sozialen Arbeit innerhalb dieses fremden Teilsystems ist es daher von vornherein schwierig, eine Differenz durch eine spezifische Expertise im Hinblick auf die soziale Dimension des zu bearbeitenden Problems zu markieren, mit der ein eigener, klar umrissener Zuständigkeitsbereich institutionalisiert werden könnte, über den sie dann die Kontrolle hätte» (Baumgartner/Sommerfeld 2016:37f.). 

Hinzu kommt, dass auch eine Abgrenzung gegenüber Angeboten und Diensten Sozialer Arbeit ausserhalb des Unternehmens – wie z.B. öffentliche Beratungsstellen – gefordert ist. 

Aufgrund der strukturellen Position sind Auftrag und Zuständigkeitsbereich der Betrieblichen Sozialen Arbeit keine feste Grösse. Die konkrete Positionierung und die inhaltliche Gestalt von Betrieblichen Sozialberatungen in Unternehmen sind vielmehr dynamisch, denn sie widerspiegeln auch die Bemühungen zur Bearbeitung des Legitimationsproblems (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 115). Die Herausforderung, sich in einem Unternehmenskontext als sinnvolles Angebot darzustellen, kann zur Übernahme der ökonomischen Logik oder zu einer starken Dienstleistungsorientierung führen. Letzteres impliziert, dass Betriebliche Sozialberatungen Angebote und Leistungen nach Massgabe der Nützlichkeit für das jeweilige Auftragsunternehmen formulieren.

2.2 Organisationsformen und Vernetzung in der Betrieblichen Sozialen Arbeit

Die Zahl der Unternehmen, die über eine Betriebliche Sozialberatung verfügen, kann in der Schweiz nur geschätzt werden. Es ist davon auszugehen, dass in der Schweiz schätzungsweise 500 Unternehmen bzw. rund 20% der grösseren Unternehmen (mit mehr als 250 Mitarbeitenden) über eine Betriebliche Sozialberatung verfügen (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 132). Die Organisationsformen unterscheiden sich hierbei in interne und externe Betriebliche Sozialberatungen. Die grössten Arbeitgeber, wie die Schweizerische Post, Swisscom, Migros, Coop, SBB oder Swisscom, verfügen über eine eigene, interne Sozialberatung, bei der mehrheitlich Sozialarbeitende mit Bachelor oder universitärem Abschluss angestellt sind. Viele der übrigen Unternehmen decken die Dienstleistung über externe Anbieterinnen und Anbieter ab, regionale und nationale. Es kann geschätzt werden, dass knapp die Hälfte der grösseren Unternehmen mit einem Angebot der Sozialen Arbeit über eine interne Betriebliche Sozialberatung verfügen (Baumgartner/Sommerfeld 2016: 146).

Die Betrieblichen Sozialberatungen sind in der Regel als kleine Einheiten organisiert. So deckt bei 56% der Unternehmen mit einer Sozialberatung eine einzelne Person das Angebot ab, bei rund drei Vierteln der Betrieblichen Sozialberatungen sind maximal zwei Sozialberatende beschäftigt (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 142). Nur bei 16% der Unternehmen sind fünf oder mehr Sozialberatende das Angebot der Sozialen Arbeit zuständig. 

Strukturell betrachtet prägen also Einzelkämpferinnen und -kämpfer das Bild Betrieblicher Sozialberatungen. Die Vernetzung der in diesem Arbeitsfeld Tätigen reicht allerdings weit zurück. Bereits 1944 schlossen sich die Fabrikfürsorgerinnen in der Schweiz zu einer schweizerischen Vereinigung zusammen, der «Schweizerischen Vereinigung der Fabrikfürsorgerinnen». 

Zu Beginn der 1990er Jahre wurde eine Intervisionsgruppe ‹Leitende in der Betrieblichen Sozialarbeit› ins Leben gerufen, die sich heute als Fachgruppe von AvenirSocial etabliert hat. Die Gruppe erarbeitete und verabschiedete ein Leitbild als Grundlage des Diskurses untereinander und zur eigenen betriebsinternen Verwendung (AvenirSocial: aktualisiert 2014). Die Fachgruppe, die bis heute Bestand hat, dient auch dem Erfahrungsaustausch über die Strategieentwicklung im Unternehmen, Rahmenbedingungen der Betrieblichen Sozialberatung und aktuelle Schwerpunkte in der Arbeit. Parallel zur Fachgruppe gibt es schweizweit regionale, selbstorganisierte und firmenübergreifend angelegte Intervisionsgruppen. 

Betriebliche Sozialberatungen sind grundsätzlich als Anlaufstelle für die Angestellten aller Hierarchiestufen gedacht, schliessen deren Angehörige ersten Grades ein und stehen – zum Teil – auch für ehemalige Mitarbeitende (Pensionierte) offen (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 136). Den Kern des Angebotsprofils machen traditionell ausserbetriebliche Probleme aus, namentlich «finanzielle Angelegenheiten» und «familiäre Beziehungen», ergänzt um «Probleme am Arbeitsplatz», die von knapp 90 oder mehr Prozent der Betrieblichen Sozialberatungen bearbeitet werden (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 154). Die Themenpalette ist jedoch erheblich breiter, wurde von der Fachgruppe ‹Leitende in der Betrieblichen Sozialarbeit› auf folgende zusammenfassende Kategorien reduziert: 

- Beratung bei persönlichen und familiären Problemen

- Beratung bei gesundheitlichen Fragen

- Beratung bei finanziellen Problemen

- Beratung bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz

- Case Management von Langzeitkranken

Das konkrete Angebotsprofil kann jedoch stark unternehmensbezogen ausgeprägt sein.

Dies wird durch die zugrundeliegende Struktur – dem Bedarf des Unternehmens zu entsprechen und aus dessen Sicht als sinnvoll codiert zu werden – begünstigt. Das konkrete Profil kann auch dem aktuellen Kostendiktat der Privatwirtschaft geschuldet sein und zu einem Leistungs- und möglichen Qualitätsabbau führen, zum Beispiel ein «Single point of contact» anstelle eines Direktkontaktes mit der zuständigen Beraterin, dem Berater. Oder es findet eine Auslagerung des Case Managements im Krankenwesen an Krankenversicherungen statt, einer ursprünglichen Kernaufgabe der Betrieblichen Soziallberatung.

 

2.3 Professionelles Handeln in der Betrieblichen Sozialen Arbeit

Auf der Handlungsebene decken sich die Anforderungen an die Betriebliche Soziale Arbeit mit jenen in anderen Arbeitsfeldern. Dazu gehört zunächst das stark multiprofessionell geprägte Setting in Unternehmen. Die Soziale Arbeit hat ihre Aufgaben im Kontext verschiedener Berufsgruppen und Fachdienste zu bewältigen. Dies bedingt die Klärung von Zuständigkeitsbereichen, Abgrenzungen und Weiterweisungen sowie eine Koordination und Zusammenarbeit bei Problemlösungen. Dieser Klärungs- und Koordinationsbedarf ist vor dem Hintergrund, dass die Erwartung einer nachrangigen bzw. zudienenden Funktion der Sozialen Arbeit strukturell angelegt ist, zu verhandeln (vgl. Baumgartner/Sommerfeld 2016: 37). Die Soziale Arbeit agiert jedoch nicht nur in einem Feld mit verschiedenen Akteuren und Akteurinnen, die in Bezug auf die «soziale Dimension» im Unternehmen ebenfalls Kompetenzen und Aufgabenanteile reklamieren. Sie steht auch in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Erwartungen, die situations- und fallbezogen auszubalancieren sind (vgl. Hochuli Freund 2017b: 128). Betriebliche Soziale Arbeit ist dem Klienten/der Klientin anwaltschaftlich verpflichtet, den Erhalt der beruflichen Integration zu ermöglichen und hierfür problematische und belastende Formen der Lebensführung zu bearbeiten (vgl. ebd: 128). Die Sicherung der beruflichen Integration ist aber auch aus gesellschaftlicher Sicht bedeutsam. Die Unternehmen wiederum finanzieren das Angebot der Betrieblichen Sozialen Arbeit und verknüpfen dieses Engagement mit der Erwartung, dass die Mitarbeitenden selbstmotiviert bei sozialen Problemen das Angebot nutzen und sich die Arbeitsqualität verbessert oder trotz persönlichen Belastungen stabil bleibt.

Dieses Mehrfachmandat stellt die Beratenden vor besondere Herausforderungen, deren Bewältigung Kompetenzen im Umgang mit diesen unterschiedlichen Erwartungen erfordern. Zugleich entstehen daraus auch normative Fragen, wie weit professionsethische Zentralwerte mit konkreten Anliegen des Unternehmens ausbalanciert werden müssen. 

Diese normative Dimension aktualisiert sich insbesondere in Situationen, in denen Mitarbeitende von ihren Vorgesetzten oder der Personalabteilung zur Kontaktaufnahme mit der Betrieblichen Sozialberatung aufgefordert werden. Die Sozialarbeitenden müssen unter diesen Bedingungen eine tragfähige Arbeitsbeziehung mit den Klienten und Klientinnen aufbauen. Dies ist bei unklarer Motivation der Klientel oder bei verordneten Hilfestellungen umso wichtiger, denn ohne aktive Beteiligung der Klientel kann eine Hilfeleistung nicht gelingen (vgl. Hochuli Freund 2017b: 129). Im Vergleich zu anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit ist die Klientel hierbei in den Erwerbsprozess eingebunden und kann damit die Existenzsicherung selbst bewältigen. Diese Ressource gibt der Beratung grundsätzlich mehr Handlungsalternativen, als sie in anderen Arbeitsfeldern typischerweise zur Verfügung stehen.

 

2.4 Zusammenfassende Folgerungen

Die Betriebliche Soziale Arbeit stellt ein Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit dar, das mit anderen Arbeitsfeldern die Gemeinsamkeit teilt, einem gesellschaftlichen Teilsystem angedockt zu sein. Diese Verortung bietet optimale Voraussetzungen, um Integrationsprobleme dort zu bearbeiten, wo sie entstehen. Dem steht gegenüber, dass der Zuständigkeitsbereich der Sozialen Arbeit von ihr nicht autonom bestimmt werden kann, umkämpft ist und grundsätzlich den Anforderungen des integrierenden Systems zu erfüllen hat. Da es sich bei der Betrieblichen Sozialen Arbeit um eine freiwillige Leistung von Unternehmen handelt, muss die Soziale Arbeit insbesondere aus deren Sicht ökonomisch und inhaltlich sinnvoll sein. Bestärkt durch den Umstand, dass andere Berufsgruppen im Unternehmen soziale Belange ebenfalls in ihr Handeln einbeziehen, sind Fragen der Zuständigkeit und die Gefahr einer möglichen Einengung der Funktionalität auf die Bedarfe des die Soziale Arbeit integrierenden Systems latent oder manifest vorhanden. Durch diese Rahmenbedingungen ist auch das professionelle Handeln in Betrieblichen Sozialberatungen geprägt. Übergreifend wie auch im Einzelfall sind Auftrag und Zuständigkeit festzulegen und in diesem Zusammenhang auch normative Aspekte zu klären. Ein weiteres strukturelles Merkmal des Arbeitsfeldes ist für die Bearbeitung von klientelen Problemlagen bedeutsam. Bei einer Mehrheit der Unternehmen, die eine Betriebliche Sozialberatung führen, agieren einzelne Sozialberatende alleine. Angesichts von Einzelkämpfern und -kämpferinnen stellt sich die Herausforderung, wie der Austausch über die Fallarbeit bewerkstelligt, ein Lernen aus Fällen und eine Kumulation von Fallwissen zu organisieren ist und gelingen kann.

 

3 Das Beispiel Proitera und kasuistische Räume in der Praxis

 

Im Folgenden steht Proitera als Beispiel für eine Anbieterin externer Betrieblicher Sozialer Arbeit in der Schweiz im Zentrum. Die Beschreibung bezieht sich zunächst auf die Organisation, das Angebot sowie die leitenden Prinzipien. In einem zweiten Teil stehen Strukturen und Gefässe des fachlichen Austauschs innerhalb von Proitera im Vordergrund.

3.1 Das Unternehmen Proitera – Organisation und Angebote

Proitera GmbH wurde 1999 in Basel gegründet. Proitera ist eine externe, national tätige Anbieterin für Beratungsdienstleistungen, spezialisiert auf Betriebliche Sozialberatung. Bei Proitera bieten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit Bachelor- oder universitärem Abschluss Unternehmen, Verwaltungen und Institutionen Betriebliche Sozialberatung an. Ende 2017 nutzten insgesamt 129 Unternehmen mit einen Personalbestand von rund 70‘000 Angestellten die Angebote der Sozialberatung.
Mit 25 Beratungsbüros ist das Unternehmen in allen Sprachregionen der Schweiz vertreten. Dadurch sind die Beratungsdienstleistungen in der jeweiligen Landessprache gewährleistet. Proitera arbeitet mit einheitlichen Standards und wurde als erstes Unternehmen vom Bundesfachverband Betriebliche Sozialarbeit (bbs e.V.) im Juni 2016 qualitätszertifiziert.

Der Hauptsitz von Proitera ist in Basel. Dort sind die Geschäftsleiterin, eine Assistentin, die zugleich die Telefonzentrale und den Empfang betreut, ein Finanzverantwortlicher, eine IT-Fachkraft und eine Expertin für Social Marketing tätig. Die dezentrale Organisationsstruktur mit den zahlreichen Beratungsbüros ist bedingt durch die Auftragsunternehmen. Denn kurze Fahrdistanzen sind eine Auflage seitens der Kundinnen und Kunden. Es gilt: Je kürzer der Weg vom Arbeitsplatz zum Büro von Proitera, desto früher wird die Beratungsstelle aufgesucht. Und je früher die Angestellten mit ihren Belastungen Proitera aufsuchen, desto rascher können nachhaltige Veränderungen mit der Klientel erarbeitet werden. Dies stellt einen persönlichen Gewinn für die Betroffenen und einen wirtschaftlichen Nutzen für das Unternehmen dar. 

Alle Beratenden sind mindestens an einem Standort, oft an zwei oder gar drei Standorten beschäftigt. Sie sind immer wieder oder ausschliesslich alleine unterwegs und auf sich gestellt. Eine hohe Autonomie, fachliche Eigenständigkeit und Loyalität gegenüber Proitera sind gefordert: Die Autonomie ist notwendig, um die Selbstorganisation und das Zeitmanagement über verschiedene Standorte hinweg sicherstellen zu können. Die fachliche Eigenständigkeit ist durch die örtliche Trennung und verzögerte Erreichbarkeit der Kolleginnen und Kollegen ein Erfordernis. Loyalität ist auch die Voraussetzung, um im Namen und im Auftrag von Proitera Entscheide treffen zu können, die kongruent mit der Firmenphilosophie und dem professionellen Verständnis von Betrieblicher Sozialer Arbeit bei Proitera sind. Dazu gehören Haltungsfragen und Werte, die zu vertreten sind. 

Das Dienstleistungsangebot von Proitera orientiert sich am Angebot Betrieblicher Sozialer Arbeit, wie es oben in Kap. 2.2 in Stichworten skizziert wurde. Gegenüber den Kundinnen und Kunden wird das Angebot präzisiert:
Beratung, Coaching, Mediation, Begleitung und als Ombudsstelle


- bei familiären Fragen (z.B. Trennung, Scheidung, Erziehung, Elder Care)
- bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz (z.B. Streit, Stress, Mobbing, sex. Belästigung)
- bei finanziellen Problemen (z.B. Budgetberatung, Schuldensanierung)
- bei Suchtproblemen (z.B. Alkohol, illegale Drogen, Medikamente, Onlinesucht)
- bei Sozialversicherungs- und Rentenfragen (z.B. IV, SUVA, BVG)
- bei Sterbe- und Trauerprozessen
- nach traumatisierenden Ereignissen (z.B. Berufsunfall, Todesfall)
- bei gesundheitlichen Beschwerden (z.B. Burnout, Case Management Langzeitbegleitung).


Die verwendete Kategorisierung des Angebots wird sporadisch überprüft und allenfalls angepasst. Dies erfolgt aufgrund von Trends und neuen Angeboten im Markt. Als Beispiel: Case Management [[weiter oben in einem Wort]]ist eine Methode der Sozialen Arbeit. Doch seit der Implementierung eines Case Managements und von Case Managerinnen und Managern durch Krankenkassen in der Schweiz steht der Begriff für ein Angebot im Kontext von Langzeiterkrankung. Da er auf das Krankenwesen reduziert ist, hat ihn Proitera im Angebot übernommen. Die Anpassung die Terminologie erfolgt auch aufgrund veränderter gesellschaftlicher Normen, Werte und daraus resultierender Konsequenzen und Verhalten. 

Um in einem Unternehmen das Angebot der Betrieblichen Sozialarbeit von Proitera bekannt zu machen, präsentiert die/der zuständige Beraterin/Berater die Themenpalette den Mitarbeitenden. Zugleich werden auch die für die Arbeit leitenden Grundsätze vermittelt:


1. Es besteht eine berufliche Schweigepflicht, wenn die Beratungsstelle freiwillig aufgesucht wird.
2. Die Beraterin hat ohne Führungsfunktion eine vermittelnde Rolle inne.
3. Die Finanzierung der Dienstleistung erfolgt durch die Firma und ist kostenlos für Angestellte.


Die Beraterin, der Berater ist Garant für Glaubwürdigkeit und Vertrauen. 

3.2 Austauschgefässe und kasuistische Räume

Die dezentralen Strukturen bei Proitera sind für das Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialen Arbeit durchaus charakteristisch. Denn es dominiert die Arbeit einzelner Berater und Beraterinnen, die – trotz Einbettung in ein Unternehmen – von Autonomie und fachlicher Eigenständigkeit geprägt ist. Aus Sicht von Proitera gilt es jedoch,die fachliche Qualität, die schweizweit gültigen Qualitätsstandards, die Identität mit dem Unternehmen und die persönliche Einbettung bei Proitera sicherzustellen und zu fördern. Vor diesem Hintergrund hat Proitera verschiedene Strukturen und Gefässe geschaffen und entwickelt. 

Vom Organisationsverständnis stützt sich Proitera auf dasAchsenmodell von Dries Oosterhof (2011).. Es basiert auf drei Achsen, genannt Primär-, Lenkungs- und soziale Achse. Die Pole der Lenkungsachse verbinden die Firmenphilosophie, die Strategie und die Ziele auf der einen und die Gefässe zur Umsetzung der Strategie und Ziele auf der anderen Seite. Die Primärachse verbindet das Angebot mit der Nachfrage des Klientels. Dabei geht es z.B. um die Frage, ob fachliches Wissen, Qualifikationen, Auftritt, Preise etc. der Nachfrage der potentiellen Kundinnen und Kunden im Markt entsprechen. Die soziale Achse fokussiert auf das Individuum und das Kollektiv am Arbeitsplatz und umfasst die persönliche Entfaltungsmöglichkeit sowie die Entstehung eines Wirgefühls.

Den drei Achsen wird bei Proitera vergleichbar grosse Aufmerksamkeit gewidmet. Konkret wurden für die verschiedenen Ebenen folgende Gefässe entwickelt.

Regionale Gefässe: 

- Fallsupervision: Eine obligatorische Fallsupervision findet alle 4 bis 6 Wochen statt. 
- Teamsitzung: Im Anschluss an die Supervision findet die Teamsitzung statt, in der Regel mit einem gemeinsamen Mittagessen.

Gefässe auf nationaler Ebene:

- Teamausflug: Um das Unternehmen Proitera weiterzuentwickeln, die Identität der Angestellten zu stärken und zu fördern, und um ein besseres gegenseitiges Kennenlernen zu ermöglichen, wird durch ein regionales Team jährlich ein Teamausflug organisiert.

- Nationale Weiterbildung: An der jährlichen Weiterbildung – mit Übersetzerin, um den Sprachregionen gerecht zu werden – wird jeweils ein Thema, das von den Regionalteams vorgeschlagen wird, aufgegriffen.
- Erweiterte Koordinations- und Fachsitzung mit Jahresessen: Bei der erweiterten Koordinations- und Fachsitzung werden situative Themen mit schweizweiter Dimension behandelt, wie Jahresreporting, IT-Anwendungen, neuer Webauftritt etc. Der Anlass wird vom Jahresessen gerahmt.

Individualisierte Gefässe: 

- Jour fixe: Jede Beraterin und jeder Berater wird – institutionalisiert – persönlich durch die Vorgesetzte, den Vorgesetzten begleitet. Der zu Beginn einer Anstellung wöchentlich und später monatlich durchgeführte Jour fixe dient dem Austausch, der individuellen Anleitung und der Thematik des Controllings.
- Patenschaft: Die Patenschaft hat zum Ziel, jemandem mit Rat und Tat eine fachlich fortgeschrittene Kollegin niederschwellig zur Seite zu stellen, sei es in Belangen der statistischen Daten und Zeiterfassung, bei Fragen zur Sachhilfe (z.B. Verwendung einer Vorlage zur Ausarbeitung einer Besuchsregelung für getrennte Eltern und ihre Kinder) oder zur Erläuterung eines vordefinierten Beratungsprozesses (z.B. bei Verdacht auf sexuelle Belästigung).

- Persönliche Weiterbildung: Das Ziel ist es, durch die Teilnahme an Weiterbildungen individuelle Entwicklungsthemen zu bearbeiten.

Führungsgefässe:
- Steuergruppe: An den viermal pro Jahr durchgeführten Steuergruppensitzungen nehmen alle Regionalverantwortlichen und die Geschäftsstellenleitenden teil. Diskutiert werden hierbei die Unternehmensziele und die geplante Strategie, vorgelegt von der Geschäftsleiterin. Zudem wird über die Entwicklung der Mandate, Anpassungen im Angebot aufgrund veränderter Marktbedingungen oder Erfahrungen aus der Beratungstätigkeit oder Akquise gesprochen und diskutiert.
- Koordinations- und Fachsitzung: Zweimal pro Jahr findet im Anschluss an eine Steuergruppensitzung die Koordinations- und Fachsitzung statt, die der Auswertung und Beurteilung der laufenden Mandate und weiteren situativen Themen gewidmet ist.
- Retraite: Die jährliche Retraite mit gemeinsamem Abendessen und Übernachtung gibt Raum für Themen aller Art. Diese werden teilweise vor Ort bestimmt. Es folgt ein Fachinput zu aktuellen Themen, im Jahr 2017 zum Umgang mit Social Media in der Praxis. 
- «Führungsskype»: Der Führungsskype zwischen Geschäftsleiterin und den Führungspersonen ermöglicht alle zwei Monate einen unbeschwerten Austausch über Freuden und Herausforderungen im Führungsalltag.

Diese genannten Gefässe dienen als Orte des Diskurses, der Reflexion, des Transfers und der sozialen Begegnung. Einige dieser Gefässe bieten kasuistische Räume, die sich in Form, Inhalt und Institutionalisierungsgrad unterscheiden. Relevanz für eine kasuistische Praxis.

Im Folgenden werden im Kontext der bestehenden Gefässe von Proitera einzelne Aspekte einer kasuistischen Praxis aufgeführt:

Grundsatzpapier – Fixierung professioneller Wissensbestände und Haltungen

Der Austausch ist in den diversen Gefässen thematisch teilweise variabel angelegt. In den Fallsupervisionen (siehe weiter unten), am Jour fixe oder in für situative Themen offenen Gefässen können Fragen zum professionellen Vorgehen bei bestimmten Problemlagen oder in Einzelfällen sowie Haltungsfragen aufgegriffen werden. Die Auseinandersetzung dient der erfolgreichen Gestaltung von Beratungsprozessen, unterstützt jedoch auch die Einhaltung fachlicher und unternehmensbezogener Standards. 

Die Fixierung dieses Wissens erfolgt in sogenannten Grundsatzpapieren, die als Beispiel normativ-illustrativer Kasuistik gelten können (siehe oben, Kap. 1). Solche Grundsatzpapiere bestehen zu jeder übergeordneten Beratungsthematik (gemäss Auflistung unter Kap. 2.2) und umfassen auf praktischen Erfahrungen basierende Handlungsanleitungen. Sie finden etwa bei der Einarbeitung von Mitarbeitenden Verwendung, um ein einheitliches Verständnis bei allen Beraterinnen und Beratern zu schaffen, oder dienen bei der Auswahl von Kandidatinnen und Kandidaten als Referenz, um die Übereinstimmung des professionellen Verständnisses mit Proitera zu prüfen. 

Folgende Rückmeldungen erhält Proitera bezüglich dieser Dokumente:
- Das habe ich noch nie vorgefunden in einer Institution. Das ist sehr hilfreich.
- Diese stimmen genau mit meinem beruflichen Verständnis überein.

Damit wird deutlich, dass niedergeschriebenes Wissen Sicherheit und Schutz vermitteln kann. Die Anwenderinnen und Anwender dieser Grundsatzpapiere sind stets diplomierte Sozialarbeitende. Damit wird vorausgesetzt, dass eine professionelle Gesprächsführung erlernt und verinnerlicht ist und auch die Fähigkeit zur Selbstreflexion besteht.

Die Grundsatzpapiere werden sporadisch überprüft und aufgrund neuer Erfahrungen oder Erkenntnisse aktualisiert. 

 

Supervision

Für Fallbesprechungen stehen verschiedene Gefässe zur Verfügung. Sie können im Team oder kollegial zu zweit stattfinden, informell entstehen oder auch institutionalisiert eingeplant sein (vgl. Hochuli Freund 2017a: 192). Für Letzteres dient die regelmässige Supervision, die einen Raum für eine heuristisch angelegte Kasuistik bietet. 

Die Supervision deckt mehrere Aspekte des professionellen Handelns ab, dies mit den Zielen:


- Handlungsalternativen am konkreten Fall erörtern

- Persönliche Anteile im Fall reflektieren

- Haltung und Werte reflektieren und diskutieren

- Wohlbefinden der Beratenden sicherstellen

- Kollegiales Lernen in der Gruppe fördern

- Methodenvielfalt erweitern


Die Supervision dient der Qualitätssicherung und Prozesssteuerung. Sie kann entsprechend der genannten Ziele unterschiedlich ausgerichtet sein und auch eine Beraterin oder einen Berater zum «Fall» machen. Sie bietet insbesondere Raum, um bei Klientenfällen nach passenden Handlungsalternativen zu suchen und ein Lernen aus dem Fall zu ermöglichen. Um die Qualitätssicherung schweizweit zu unterstützen, nimmt die Geschäftsleiterin einmal pro Jahr an der Supervision teil.

 

Auftragsarbeit
Das Angebot der Betrieblichen Sozialberatung folgt den Prinzipien der Vertraulichkeit und Freiwilligkeit. Im Widerspruch dazu steht «Auftragsarbeit», wenn Betriebe bei Mitarbeitenden, die am Arbeitsplatz reduzierte Leistungen ausweisen oder wegen eines Fehlverhaltens Kritik auf sich ziehen, von Vorgesetzten oder Angestellten der Human Resources auf die Betriebliche Sozialarbeit verwiesen werden. Die Sozialberatung steht hierbei vor der Herausforderung, unter diesen Voraussetzungen eine tragfähige Arbeitsbeziehung herzustellen. Zudem erwarten Vorgesetzte und die Human Resources bei einer «Auftragsarbeit» normalerweise, dass sie den Beratungsprozess verfolgen können, um den Entwicklungsprozess der betroffenen Person zu beurteilen. 

Ein mögliches Format im Umgang mit dieser Situation ist die Beschreibung des Falles und die Dokumentation der Fallentwicklung. Dies eröffnet – in Anlehnung an eine deskriptive Kasuistik – Raum für die Auseinandersetzung mit Vorgesetzten oder Angestellten der Human Resources über Aufgaben und Auftrag der Sozialen Arbeit generell sowie im konkreten Einzelfall und die Koordination der Vorgehensweisen verschiedener Akteure und Akteurinnen im Unternehmen. Die «Auftragsarbeit» bietet somit Raum, um gemeinsam mit diesen Akteursgruppen leitende Prinzipien und übergreifende Prozessabläufe bei bestimmen Problemkonstellationen festzulegen. 

Dokumentation

Die Dokumentation der Arbeit anhand von Fällen ist ein geeignetes Mittel, um gegenüber dem Unternehmen den jeweiligen Leistungsausweis zu dokumentieren. Proitera greift bei der jährlichen Präsentation über die Nutzung des Angebots und die Beratungsthemen neben statistischen Daten auf anonymisierte Fallbeschreibungen zurück. Dabei lässt sich ein Interesse des Unternehmens feststellen, mehr über ‹Einzelschicksale› von Mitarbeitenden zu erfahren. Zudem können die Beispiele eine Form von Betroffenheit auslösen, deren Effekt nachhaltiger ist als nüchterne Reportingzahlen.
 

 

Kasuistische Räume und neue Medien

Anlässlich eines Treffens der Fachgruppe ‹Leitende in der Betrieblichen Sozialarbeit› wurden die verschiedenen Gefässe für den fachlichen Diskurs und die mögliche Nutzungneuer Medienthematisiert. Während bis vor Kurzem ausschliesslich traditionelle Formen der Kommunikation wie Teamsitzungen vor Ort, Intervision und Supervision Verwendung fanden, begeht Proitera derzeit neue Wege und nutzt zusätzlich zu den herkömmlichen konventionellen Mitteln neue Kanäle. Dies sind:

- Skype: Nachdem sich der Jour fixe per Skype bewährt und etabliert hat, finden neu auch Skypekonferenzen zu thematischen und strukturellen Fragen statt.
- Whatsapp: Eine Whatsapp-Gruppe lässt die Arbeitskolleginnen und -kollegen anderer Regionen an regionalen Events teilhaben. Neue Büros werden mit Fotos präsentiert, Feiertagswünsche verschickt etc.
- Rundmails: Für Umfragen oder zwecks fachlicher Unterstützung kommt ein Rundmail zur Anwendung (z.B. für die Suche nach einer Therapeutin für Onlinesucht in der Ostschweiz).


Eine Befragung der Berater und Beraterinnen bei Proitera zur Verwendung neuer Medien zeigt, dass Skype als eine Bereicherung in der Kommunikation über Distanzen empfunden wird. Die Whatsapp-Gruppe wird für den informellen Austausch geschätzt. Mailumfragen werden bei kurzen konkreten Anfragen begrüsst, für einen differenzierten Austausch hingegen als nicht praxistauglich empfunden. Einerseits, weil Mails zu wenig Vertraulichkeit sichern, andererseits, weil ein Austausch bei vielen Mails als träge und das geschriebene Wort als wenig differenziert empfunden wird. Daher werden bei Proitera Face-to-Face-Kontakte für Besprechungen aller Art beibehalten, wobei Skype eine gangbare Alternative darstellt. 


 

4 Fazit

 

Die Betriebliche Soziale Arbeit ist ein Arbeitsfeld, das in der Privatwirtschaft angesiedelt ist. Fragen zur Zuständigkeit, zu Aufgaben und Mandat begleiten Betriebliche Sozialberatungen in einem derart ökonomisch und durch verschiedene Berufsgruppen geprägten Kontext. Strukturell ist das Arbeitsfeld mehrheitlich so organisiert, dass vor allem einzelne Sozialberatende das Angebot für Unternehmen gewährleisten. Es stellt sich unter diesen Rahmenbedingungen für die Professionalität der Sozialen Arbeit die Herausforderung, keinen einengenden, der Logik der Ökonomie unterworfenen Zuständigkeitsbereich zu übernehmen und zugleich Wissen und Kompetenzen aufzubauen bzw. zu erhalten, um mit Erfolg vielfältig bedingte Integrationsprobleme von Mitarbeitenden zu bearbeiten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen muss sich in der Arbeit mit konkreten Fällen zeigen. 

Die Kasuistik kann hierbei eine bedeutende Rolle spielen, wie sich am Beispiel von Proitera zeigen lässt. Als schweizweite Anbieterin von Betrieblicher Sozialer Arbeit ist sie primär dezentral und in mit einzelnen Personen besetzten Anlaufstellen organisiert, da die Nähe der zuständigen Sozialberaterin zum Kundenunternehmen eine Notwendigkeit darstellt. Für Proitera ist es deshalb zunächst wichtig, allzu divergierenden, primär unternehmensspezifisch geprägten Profilen dessen, was die Betrieblichen Sozialberatungen anbieten und an Zielsetzungen verfolgen, vorzubeugen und einheitliche Angebote, Grundsätze und normative Haltungen sicherzustellen. Zugleich ist zu gewährleisten, dass aus der Bearbeitung der Einzelfälle Lehren gezogen werden und entsprechendes Wissen aufgebaut wird. Dieses Ansinnen konkretisiert sich in verschiedenen Strukturen und Gefässen, die auch kasuistische Räume bieten. Als Beispiel für eine normativ-illustrative Kasuistik lassen sich Grundsatzpapiere nennen, die zu unterschiedlichen Beratungsthematiken bei Proitera die jeweils geltenden Vorgehensweisen beschreiben und damit bestehendes Wissen fixieren. Sie bieten einen einheitlichen Orientierungsrahmen, der in der konkreten Beratungsarbeit wie auch bei der Rekrutierung und Einarbeitung von neuen Sozialberatenden leitend ist. 

Die Beschreibung von Fällen kann – in Anlehnung an eine deskriptive Kasuistik – auch als Mittel dienen, um gegenüber dem Auftragsunternehmen die Arbeit der Betrieblichen Sozialberatung deutlich zu machen und zu illustrieren. Sie sind aber auch – etwa im Kontext der «Auftragsarbeit» – Anlass, um fallbezogen mit Vorgesetzten oder Vertretern und Vertreterinnen der Human Ressources die konkreten Aufgaben der Betrieblichen Sozialberatung bzw. deren Beitrag im multiprofessionellen Zusammenspiel zu klären und zu besprechen und damit Lehren aus praktischen Erfahrungen zu ziehen.

Fallbesprechungen finden bei Proitera in unterschiedlichen Settings statt. Den Anspruch einer heuristisch orientierten Kasuistik, nämlich fallbezogen Erklärungs- und Handlungsalternativen auszuloten, erfüllt das Gefäss der extern begleiteten, regional organisierten Supervision. Dies ist der primäre Ort, um die professionelle Wissensbasis fallbezogen einzubringen, zugänglich zu machen und zugleich aufzubauen.

Angesichts der Herausforderungen, die sich im Arbeitsfeld der Betrieblichen Sozialen Arbeit stellen, bleibt die Einrichtung kasuistischer Räume auch in Zukunft eine Notwendigkeit. Die Möglichkeiten hierfür werden auch neue Medien erweitern können, zu denen Proitera bereits erste Erfahrungen sammeln konnte.

 

 

 

Literatur

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Hochuli Freund, Ursula (2017b):Kooperative Prozessgestaltung im Eingliederungsmanagement: eine praxisfeldspezifische Ausdifferenzierung des Konzepts Kooperative Prozessgestaltung. In: Hochuli Freund, Ursula (Hg.): Kooperative Prozessgestaltung in der Praxis. Materialienband für die Soziale Arbeit. Stuttgart: Kohlhammer, 127–150. 

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